von Andres Veiel/Gesine Schmidt
Regie: Hannah Schassner/Torsten Knol
Premiere: 25.09.15, theaterperipherie
Fotos: Seweryn Zelazny
mit: Marcel Andrée, Ole Bechtold, Emrah Erdogru, Silvana Morabito, Lisa Deniz Preugschat, Bahar Sarkohi
Eine wahre Geschichte: In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird in Potzlow der 16-jährige Marinus von den Brüdern Marco und Marcel sowie ihrem Kumpel Sebastian über Stunden beschimpft („Du Jude!“),
misshandelt , mit einem sogenannten „Bordsteinkick“ nach Vorbild des Filmes American History X hingerichtet und in einer Jauchegrube entsorgt. Obwohl sich die vier an diesem Abend nicht ungesehen
durch das Dorf bewegen und Teile der Misshandlungen unter Zeugenschaft geschehen, bleibt die Tat monatelang ein Geheimnis. „Der Kick“ rekapituliert die Umstände
und Begebenheiten dieses Mordes durch eine aus Interviews und Gerichtsprotokollen zusammengestellte Collage, die die Tat und ihre Zusammenhänge dokumentarisch aus mehreren Blickwinkeln
beleuchtet.
8 Wochen lang erprobten wir die unterschiedlichsten Perspektiven und Darstellungsweisen, spielten uns in Rage und Wut und gingen an unsere Grenzen. Ein Rätsel bleibt die Tat dennoch. Wo nimmt sie
ihren Ursprung? Was kann eine Haltung angesichts der Unfassbarkeit sein? Zynismus, Arroganz, Ekel, Mitleid, Hass, Trauer? Wie erzählen wir über Potzlow? Und was passiert, wenn Potzlow nicht mehr
in Potzlow bleibt, sondern sich immer mehr einen Weg nach Frankfurt bahnt? Aber das will doch wirklich keiner sehen, den potzlowschen Teil in uns - und das bei theaterperipherie, einem
postmigrantischen Theater. Das hat doch bitteschön nichts mit uns zu tun! Wir sind doch reflektiert, idealistisch und fröhlich. Und dann erklingt der erste Satz auf der Bühne: "Wir Potzlower sind
eben fröhlich!" Aber hier lügt doch jemand, legt Masken an und spielt eine Rolle, die schützt und verschleiert, die eine Distanz schafft zu dem, was eigentlich gesagt werden könnte, wo dann
plötzlich nur eine stumme Menschenmenge übrig bleibt, die zuschaut.
Regie: Hannah Schassner & Torsten Knoll
Dramaturgie: Ute Bansemir
Ausstattung: Sylvie Berndt
Musik: Torsten Knoll
Regieassistenz & Choreographie: Lenja Busch
Technik: Mirjam Lüdecke
Pressestimmen zu DER KICK
Wenn sie den Deckel der Blechkiste zuknallen. Wenn sie Kies auf der Bühne verteilen oder Steine auf die Kiste legen, als sei sie ein Grabstein auf einem jüdischen Friedhof. Dann sind die Bilder unmittelbar da im Kopf, die Bilder der unfassbaren Tat, die Andreas Veiel und Gesine Schmidt in ihrem dokumentarischen Theaterstück „Der Kick“ verarbeitet haben.Torsten Knoll und Hannah Schassner haben es nun in ihrer ersten eigenen Regie-Arbeit für die Theaterperipherie inszeniert.
(...) hessisch gebabbelt (...) mit obszönen Gesten sexualisiert (...) wüste Beschimpfungen (...) grenzwertige Judenwitze...
FR, 28.9.2015
Inszeniert wird frontal, in Chören und Rollenwechseln, mit Jahrmarkts-Tonspur, Galgenhumor und kluger Symbolik im Kunstraum. (...) Später hegen Textseiten die Fläche ein. Ein unbarmherzigmahlender Mechanismus setzt sich in Gang. (...) Fast verzweifelt suchen sechs Darsteller und die Regie nach Erklärungen. Jene im Publikum, die nicht lachen konnten, um Druck abzulassen, fühlten sich „zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus“ (Georg Büchner) dieser wahren Geschichte.
FNP, 29.9.2015
Im Titania steigt das Ensemble mit krachendem Strobo-Gewitter ein. Der Stoff ist hart - die Beats sind es auch. Ohne zugeteilte Rollen bereiten sechs Darsteller die Vorlage mit assoziativen Spielen, Zitaten, Musik und Videos episodisch auf, verschmelzen die Figuren häufig in eindrucksvollem chorischem Stakkato oder überzeichnen sie zur Karikatur.
In immer wieder neuen Anläufen versuchen die Darsteller das Geschehen und seine Akteure zu begreifen. (…) Ein schonungsloses packendes Ringen (...).
Strandgut, Nov 2015
Weil das Geschehen auch nach dichten 70 Minuten schier unbegreiflich bleiben muss. [Die Inszenierung, Anm. d. Verf.] dekonstruiert allzu naheliegende Erklärungsmuster, wie Experten sie in derlei flugs in sämtlichen Talkshows aus dem Ärmel schütteln. (...) Es wird denn auch viel gelacht im Publikum über die hier dargestellten Muttis, Prolls und all die kleinen Nazis. (...) Doch wie man es auch dreht und wendet, die Bühne wird dem Unfassbaren (...) nicht gerecht. Das weiß auch Veiel und das wissen offensichtlich auch die Regisseure und wechseln daher immer wieder die Perspektive. (...) Warum hat sich niemand den Tätern entgegen gestellt? Das ist die Frage, um die sich alles dreht und sie zielt auf uns, das Publikum.
FAZ, 29.9.2015